Wer Unabhängigkeit kannte, für den ist es besonders schwer, wenn die Krankheit des Partners eine pausenlose Betreuungsaufgabe notwendig macht. Eine Zwei-Zimmer-Wohnung in einem anonymen Mietshaus; in dem lebe ich. Aber auch ein zarter Mann von 76 Jahren, immerfort lächelnd, und eine jugendlich wirkende, attraktive Frau von 63, die noch mitten im Leben steht. Freundlich öffnet sie die Wohnungstür. Immer wieder während der nächsten Stunde schlurft ihr Mann in einer Jogginghose herein, lächelnd, dünn, rastlos umherwandernd, mit fragendem Blick. Da wird ihre Unruhe merklich stärker. Die Frau lebt im Dauereinsatz für ihren Mann. Vor sechs Jahren erkrankte er an Alzheimer. Und dies, sagt sie, geht ihr oft an die Substanz. Damals war er siebzig. Eigentlich kein „Alter“. Alle und alles hat diese Krankheit verwandelt. Der Schock der Diagnose ist plötzlich da. Doch der Alltag verändert sich schleichend – spürbar, aber schleichend wie die Demenz. Ihr Mann war ein lebenslustiger, neugieriger Mann, viel unterwegs, manchmal bis zu einem halben Jahr als Fernfahrer im Ausland. Ganz früher hatten die beiden eine Tankstelle. Dann ging ihr Mann zu einer Spedition und begann das Reisen. Nach der Rente arbeiteten beide als Hausverwalter. Sie ist bis heute erwerbstätig. „Also, ich war immer mein eigener Herr“, sagt sie stolz. Man sieht es ihr an.
Als noch alle gesund waren, hing das Ehepaar nicht ständig aneinander. Man machte auch bisweilen getrennt Urlaub. Bis zu seiner Diagnose ließen Mutter und Tochter den Vater häufig allein. Auch ihr Mann tat früher gern, was er wollte. Offenbar nicht nur beruflich. Damit kam das Paar gut zurecht.
Und heute? „Es ist so“, sagt sie, „dass ich hier sitze und mich nicht mehr bewegen kann – das ist das Schlimmste“. Alles dreht sich um die Krankheit, die ganze Lebensplanung, alles. Schon ihr Vater war an Alzheimer erkrankt. Sie und ihre Schwester betreuten ihn so gut und lange es ging zu Hause. Das versucht sie bei ihrem Mann heute auch. Doch irgendwann musste ihr Vater trotzdem ins Pflegeheim. Dies war, so erinnert sie sich, für alle eine schreckliche Erfahrung. Es war tragisch, als kurz nach dem Tod des Großvaters beim Ehemann die gleiche Krankheit ausbrach. Zu wissen, was passieren könnte, macht ihr die jetzige Situation doppelt schwer. „Wenn ich das nicht wüsste“, sagt sie, „würde ich da viel unbedarfter rangehen“. Die gemeinsame Tochter wohnt fünf Minuten Gehweg entfernt, in einer ruhigeren Gegend, mit einem kleinen Platz, der von Bänken gesäumt ist. Mutter und Tochter pflegen ein sehr enges Verhältnis. Das war schon immer so, erzählt sie. Die Tochter kommt täglich zu Besuch, außerdem wird mehrfach telefoniert, nur nicht mehr am Abend, damit die vielen Sorgen, die die beiden Frauen teilen, nicht noch mit ins Bett genommen werden. Schlaf gibt es für sie praktisch nur mit stündlicher Unterbrechung. Nachts ist er oft unruhig, meint, es sei bald Tag. „Da denk‘ ich, wo ist er denn, und dann läuft er schon splitternackt herum und will duschen, nachts um drei“. Um fünf Uhr früh kommt das erste Mal die Hand. Dann guckt er, ob sie noch da ist. Übermächtig ist seine Angst vor Verlust und Alleinsein.
„Dass ich da bin und nicht weggeht, ist das A und O in seinem Leben geworden. Um 8.00 Uhr stehen sie normalerweise auf. Ein regelmäßiger Alltag erleichtert viel. Nur lässt seine Fähigkeit, Regeln zu befolgen, immer mehr nach. Während des Frühstücks beginnt er, die Zeitung zu lesen“. Er hält sie sich vors Gesicht und wird sich die Zeitung den ganzen Tag über vor das Gesicht halten, viele Stunden lang. Nebenher läuft der Fernseher. Die Inhalte beachtet er gar nicht, nur an muss er sein. Am Vormittag ist er noch verhältnismäßig ruhig. Wenn die Sonne scheint, sitzt er gern auf der Terrasse. So kann sie kurze Einkäufe erledigen oder ihrem Job als Hausverwalterin nachgehen. Sie arbeitet durchschnittlich 23 Stunden in der Woche.